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Gegenwart kuratieren

Sie sollen pflegen, vertreten, Vormund sein. So verlangt es zumindest der lateinische Ursprung ihrer Berufsbezeichnung. Heute sind Kurator*innen viel mehr: Sie wählen aus, interpretieren, gestalten den Diskurs mit. Sie sind überflüssig – meinen manche, neutrale Persönlichkeiten sind sie mit Sicherheit nicht – das wissen die meisten. Wie Kurator*innen aus unserem Umfeld arbeiten, das wollten wir für unseren aktuellen Themenschwerpunkt wissen. Im Gespräch haben wir erfahren, welche Künstler*innen sie gerade spannend finden, welche künstlerische Position sie schon lange verfolgen, aber bisher vielleicht noch nicht ausstellen konnten, welche Themen aus ihrer Sicht dringend besprochen gehören und woher ihre Ideen kommen. Und wo sie sich informieren, was hören/lesen/sehen haben uns auch einige von ihnen noch verraten. Daraus entstand ein persönlicher Zugang zu Kurator*innen und ein noch persönlicherer zu ihren Künstler*innen.

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Jürgen Tabor & Marinella Senatore

Marinella Senatore und Salzburg, das passt. Dachte sich Kurator Jürgen Tabor, der aktuell am Museum der Moderne für die Generali Foundation zuständig ist. Weil es in der Arbeit der Künstlerin Senatore um das Zusammenführen unterschiedlicher Communities und das Bearbeiten des öffentlichen Raums geht, kann er sich eine Ausstellung mitsamt Aktion an seinem derzeitigen Arbeitsplatz besonders gut vorstellen. Uns hat er in seine Pläne eingeweiht. Weil Aktionen der italienischen Aktivistin, Feministin und Künstlerin ohne öffentliche Beteiligung eigentlich unmöglich vorstellbar sind, mussten wir mit Jürgen natürlich auch über die Pandemie und ihre Auswirkungen auf das künstlerische Schaffen sprechen. Corona wirkt aktuell auch auf seine Arbeitsweise ein, statt Biennalen und intensives Reisen steht für ihn derzeit das Durchscannen einschlägiger Newsletter und Internetportale auf dem Programm. Um am Ball zu bleiben. Damit ihr noch weiter in das Oeuvre von Marinella eintauchen könnt, haben wir Lese- und Schaumaterial in unseren digitalen Wühltisch gepackt, an dem ihr euch nach der Lektüre des Interviews bedienen dürft. Und könnt. Und müsst.

Quelle Titelbild: Klick

Marinella Senatore
Seul un homme peut émanciper un homme (only a man can emancipate a man) 2019
Cotton Embroidery, mixed media
Various dimensions
Quelle: https://marinella-senatore.com/project/protest-forms-memory-and-celebration-artworks/

Senatores Aktionen sind sozialkritisch, aber in einer anderen Sprache. Es wird etwas Künstlerisches, Tänzerisches, Musikalisches entwickelt und nicht ausschließlich politisch protestiert.

Jürgen Tabor

Jürgen Tabor arbeitet derzeit parallel an mehreren Projekten, Marinella Senatore möchte er im Sommer 2022 in Salzburg zeigen.

Jürgen Tabor

Jürgen Tabor (*1976) ist Kurator in Salzburg. Er studierte Kunstgeschichte, Anglistik und Amerikanistik und promovierte 2006 an der Universität Innsbruck. Er war von 2006 bis 2010 Kurator, von 2011 bis Mitte 2017 stellvertretender Direktor sowie 2016 interimistischer Direktor des TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol in Innsbruck und 2017 bis 2019 Kurator der Klocker Stiftung, Innsbruck, sowie der Biennale Innsbruck International. Seit 2019 ist er Kurator der Sammlung Generali Foundation am Museum der Moderne Salzburg.

Jürgen Tabor: Ich habe da schon eine konkrete Vorstellung, was ich in Zukunft zeigen möchte. Ich plane derzeit bis 2023 voraus, das heißt, ich habe schon mehrere Ausstellungen vor meinem inneren Auge. Ich würde zum Beispiel sehr gerne Marinella Senatore zeigen, eine italienische Künstlerin. Sie ist Römerin und bezeichnet sich als Aktivistin, Feministin und Künstlerin. Was sie besonders macht: Sie arbeitet zum Thema der Gemeinschaft und arbeitet in Form von großen, kollektiven Aktionen. Man kann sich ihre Arbeiten auch wie große Prozessionen vorstellen, sie verbindet Elemente der Paradenkultur mit dem Tanz, der eine ihrer wichtigen Sprachen darstellt. Sie hat eine Schule gegründet, die sich „School of Narrative Dance“ nennt – ein wichtiger Rahmen, mit dem sie arbeitet.

Wie kann man sich eine Ausstellung von ihr vorstellen?

Wo sie eingeladen wird, lädt sie Gruppen und die Öffentlichkeit ein, mitzumachen. Einbezogen werden Tänzer*innen, Musiker*innen, Laien aber auch Professionelle. Es gibt meistens vorab einen Open Call, um Teilnehmer*innen anzusprechen; in ihrer „Schule“ werden dann gemeinsam Projekte entwickelt, sprich die verschiedenen Gruppen bringen sich gegenseitig etwas bei. Es geht bei dieser Herangehensweise immer um Emanzipationsfragen, darum, dass man gemeinsam Geschichten zu sozialen Themen entwickelt. Im Tanz werden diese dann sichtbar gemacht, es wird eine Choreographie entwickelt. Als Höhepunkt ziehen am Schluss alle zusammen durch die Stadt, in Form der bereits angesprochenen Parade. Es geht um das Kollektiv, aber auch darum, sich im Stadtraum zu positionieren, diesen einzunehmen. Fünf bis sechs Millionen Menschen haben bereits an ihren Aktionen teilgenommen.

Können die Aktionen auch kritisch sein? In Form von Demos?

Die Aktionen sind sozialkritisch, aber in einer anderen Sprache. Es wird etwas Künstlerisches, Tänzerisches, Musikalisches entwickelt und nicht ausschließlich politisch protestiert. Bei Senatore finden unterschiedliche Gruppen zueinander, sie beeinflussen die Choreographie. Bläsergruppen treffen auf Jazztanzgruppen, treffen auf Skater – also auch unterschiedliche Milieus. Es geht bei ihr um Inklusion, um Diversität, die aufgezeigt wird.

Wie hast du sie kennengelernt?

Ich habe sie entdeckt, als ich eingeladen wurde, für das Museion in Bozen eine Ausstellung zu entwickeln (die dann nicht stattgefunden hat). Ich hatte damals viel zu italienischen Künstler*innen recherchiert. Sie gehört in Italien zu den spannendsten Positionen einer jüngeren Künstler*innengeneration und ihre Arbeit ist herausragend – gerade was die kollektive Performance angeht. Die Form, wie sie arbeitet, hat etwas sehr Spezifisches, das hat mich fasziniert. Für die Ausstellung „Bodies-Cities“ am Museum der Moderne Salzburg, zu der wir sie vergangenes Jahr eingeladen haben, hat sie übrigens keine Aktion entwickelt: Wir haben ihre Zeichnungen gezeigt, in denen sie historische und gegenwärtige Protestformen verhandelt und analysiert; von frühen feministischen Protesten bis aktuellen Ereignissen in Hongkong, den Philippinen oder den USA.

Was findest du an ihrer Arbeit besonders spannend?

Ich finde die kollektive Performance als Format sehr spannend. Es geht darum, eine Gemeinschaft, ein spezifisches Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln – kein homogenes, bei dem alle für eine Ideologie oder ein politisches Ziel und für eine gewisse Uniformität stehen, sondern eine Gemeinschaft, die sich zusammenfindet und sich dann über Kunst, Tanz, Musik jeweils auf ihre eigene Weise ausdrückt und sich im öffentlichen Raum präsentiert. Die Aktionen sind natürlich sehr ortsspezifisch, je nach dem wer daran mitarbeitet. Sie spricht bewusst auch unterschiedliche Communities an, die sich sonst nicht treffen würden. Das fände ich auch für Salzburg als Stadt spannend, es gibt hier eine große Musik- und Tanztradition, aber auch soziale Gruppen oder Milieus, die, wie mir vorkommt, teils relativ stark voneinander getrennt sind und nichts miteinander zu besprechen haben. Hier wäre es interessant, solche Trennungen zu thematisieren und ein Beispiel von Gemeinschaftlichkeit quer durch Gruppen und Milieus zu schaffen. 

Wie stellst du dir eine Ausstellung von ihr im Museum der Moderne Salzburg vor?

Eine Ausstellung mit ihrer Kunst ist eine besondere Herausforderung. Man will ja in den Museumsräumen arbeiten und parallel im Stadtraum. Die beiden Räume müssen unterschiedlich gedacht werden. Bei der Ausstellung geht es darum, einen Einblick in ihr Oeuvre zu geben, zu zeigen, welche verschiedenen Aspekte ihr Denken hat. Neben ihren Aktionen zeichnet Senatore auch viel, sie arbeitet filmisch und mit skulpturalen Objekten. Ihre Zeichnungen etwa sind intensive Recherchearbeiten; sie sollten auf jeden Fall Teil einer Ausstellung sein. Für das Museum der Moderne Salzburg und generell für Salzburg finde ich ihre körperbetonte Arbeit, bei der es auch um den direkten Kontakt geht, sehr spannend. Die aktuelle Situation, in der wir auf Kontakt bewusst verzichten müssen und den öffentlichen Raum, den wir uns sonst teilen, meiden, ist wiederrum für Senatore als Künstlerin eine besondere Herausforderung. Umso spannender wäre es zu sehen, was sich verändert hat oder wie wir ihre Arbeit nach Corona wahrnehmen werden. Aktuell rechne ich mit einer möglichen Realisierung der Ausstellung im Sommer 2022 – da hat sich die Situation hoffentlich normalisiert. Gerade in dieser Zeit werden wir Projekte brauchen, die sich den Stadtraum und die Gemeinschaft wieder zurückholen.

Funktioniert ihre Kunst ohne aktive Teilnehmer*innen?

Das wird sich zeigen. Ich glaube, das soziale, gemeinschaftliche Gefühl hat sich in dieser Zeit schon verändert. Es wird also wie gesagt, spannend sein, zu sehen, ob die Menschen anders darauf reagieren. Ebenso wie sich die aktuelle Zeit auf die Arbeit von Senatore auswirkt – sie hat seit März keine Aktionen mehr realisiert, musste große Projekte etwa auf der Biennale Sao Paolo absagen oder verschieben.

Wie nimmst du generell Kontakt zu Künstler*innen auf, die du ausstellen möchtest?

Bei Senatore ist dies unkompliziert, wir kennen uns schon. Generell lernt man sich kennen, man trifft sich und spricht über mögliche Ideen. Bei Senatore werde ich nachfühlen, in welcher Situation sie gerade steckt, welches Thema sie sich für das Projekt vorstellen könnte und welche Ideen ihr und uns in den Kopf schießen.

Die Ausstellung entsteht also in Zusammenarbeit?

Ja, im Grunde schon. Die enge Kooperation ist das Wichtigste für jedes Projekt. Natürlich bereitet sich jeder*e Künstler*in anders auf eine Ausstellung vor. Es gibt Künstler*innen, die mir als Kurator die Auswahl überlassen wollen, für andere steht das gemeinsame Diskutieren im Mittelpunkt. Bei Senatore wird der gemeinsame Austausch ganz wichtig sein.

Wo holst du dir Inspiration, gerade jetzt wo man nicht unbedingt viele Ausstellungen sehen kann?

Ich sehe mir natürlich normalerweise vieles an, Ausstellungen, Biennalen usw.. Zurzeit aber auch viel online; über einschlägige Seiten, bekannte Newsletter wie e-flux etwa, kann man sich gerade in dieser Zeit, wo nicht so viel gezeigt werden kann, wenigstens mit Informationen versorgen.

30.11.2020-
21.12.2020

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Marinella Senatore
Protest Bike Dresden 2018
Chopper bike, megaphones, sound, flags, LED lights, mixed media 
Installation view at Schirn Kunsthalle, Frankfurt
Photo by N. Miguletz 
Quelle: https://marinella-senatore.com/project/protest-bike-2/

Marinella Senatore (*1977) ist Künstlerin aus Rom. Sie studierte an der Universidad de Castilla-La Mancha (2008-2012) und am Centro Sperimentale di Cinematografia in Rom. Ihre Aktionen und Ausstellungen brachten sie bereits rund um die Welt, das MACRO Museum, Rom oder das Centre for the Less Good Idea, Johannesburg zeigte Einzelshows der Künstlerin. Mit ihren Aktionen war sie schon in Zürich, Dresden, Palermo oder Miami. Heute lebt sie in Berlin.

“I prefer dialogue, which obviously is not always free of conflict. But such conflicts exist, and they are resolved within the community. The procession is an opportunity for discussion and cohesion.”

Marinella Senatore
Bodies in Alliance / Politics of the Street  2019 
Lightjet Print, Diasec and Acrylic Fabric  cm 90 x 135
Quelle: https://marinella-senatore.com/project/bodies-in-alliance-politics-of-the-street/ 

Marinella Senatore
Assembly, 2018
Installation: Luminarie, LED bulbs and wooden structures
Dimension determined by the space
Installation view at High Line, NY
Photo Timothy Schenck
Quelle: https://marinella-senatore.com/project/protest-forms-memory-and-celebration-artworks/

Marinella Senatore
Everybody can be Pussy Riot  2019
Mirror Tiles, Modified Cloth Balaclava, Cement Bust, Aluminium, Wood and
Framed Photographic Print
Dimensions Variable
Quelle: https://marinella-senatore.com/project/protest-forms-memory-and-celebration-artworks/

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