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...Heute
für Morgen.

Titelbild: Kent Monkman
Resurgence of the People
2019, Acrylic on canvas
132” x 264”  –> Quelle: NY Times vom Dezember 2019 

Im letzten Beitrag haben wir uns mit Künstler*innen, Museumsmenschen und die Institutionen im Blick behaltend auf neue Formen des Erinnerns eingelassen, die zeitgenössisch vom Gestern im Heute erzählen. In diesem Beitrag machen wir einen Schritt weiter: Wir fragen uns, wie eine globalisierte Welt unser Erinnern verändert. Da die Geschichte der Globalisierung eng mit dem Kolonialismus verbunden ist, müssen wir zuerst – bevor es um die Zukunft geht – zurückspulen und nochmal ins Gestern wechseln. Wie wirkt die koloniale Ordnung bis heute nach und was hat das mit Identität und uns selbst zu tun? Besonders im Zusammenhang mit zeitgenössischen Rassismen erlangt diese Fragestellung mit dem Tod von George Floyd gerade tragische Aktualität. Die Wut auf das System ist hier eine grundsätzliche. Gewohnt non-linear, also als Netzwerk aufgebaut, stellen wir unsere Perspektive auf den Diskurs vor, die von Einblicken in die Postcolonial Studies über vielfältige, visuelle und auditive Assoziationsketten in die Schlagzeilen von Heute führt.

Wir geben auch dieses Mal Grundlegendes aus unserer Recherche wieder, stellen Verbindungen her, behaupten Verwandtschaften oder träumen uns in Utopien – auf unserem Wühltisch kristallisieren sich die Assoziationen auf multimediale Art und Weise. Mit Universitätsprofessor, Autor und Kurator Christian Kravagna beleuchten wir das Grundsätzliche (Bürotalk 1): die Postcolonial Studies und ihre Wirkkraft in Wissenschaft und Kunstbusiness. Mit Kuratorin Marjiana Schneider (Bürotalk 2) lernen wir einen Künstler neu kennen, der seit den Neunzigern mit seinen Arbeiten theatralisch bunt auf diskriminierende Ordnungen verweist. 2020 sollte im Museum der Moderne in Salzburg eine Retrospektive zu Yinka Shonibare CBE gezeigt werden. Dass ihr dazu jetzt nicht auch Bilder und eine Ausstellungstour sehen könnt, ist übrigens Corona geschuldet. Die Schau musste ins Frühjahr 2021 verschoben werden. Als Trostpflaster gab uns Schneider im Interview schon mal vorab Einblicke in die geplante Schau.

Für ein ganzheitliches Scroll-Erlebnis empfehlen wir auch für diesen Beitrag die Desktop-Version.

Exkurs ins MET

Max Hollein (* 7. Juli 1969 in Wien) ist ein österreichischer Kurator und Museumsdirektor.
Im August 2018 übernahm er die Leitung des Metropolitan Museum of Art in New York City.

Max Hollein im Gespräch mit Claudia Bonin (art – Das Kunstmagazin / Mai 2020)

HOLLEIN: (…) Bei der Suche nach einem Kandidaten für den Posten des Direktors wurde ich zu Gesprächen eingeladen, bei denen man dann so tat, als ob es sich um eine zwanglose, nette Unterhaltung handelt. Bei einem dieser Gespräche wurde ich gefragt, ob ich etwas Besonderes über die Sammlung erzählen könnte. Ich denke, die Frage zielte darauf ab, dass ich eine
kunsthistorische Finesse über die alten Niederländer loslasse. Aber ich habe gesagt, dass rund die Hälfte der Objekte, die sich im MET befinden, nicht die Wahrheit erzählen und wie wichtig es ist zu verstehen, dass es sich bei vielen Objekten um pure Propaganda handelt.

ART: Offensichtlich kam diese provokante Aussage gut an.

HOLLEIN: Man war sehr interessiert, denn de facto bedeutet es, dass sich Kunstwerke einer heutigen Sicht öffnen.

ART: Warum ist das MET dermaßen spät dran, Kulturgeschichte kritischer zu beleuchten und neu aufzubereiten? Indigene Kunstobjekte zogen erst 2018 in die Amerika-Abteilung ein und wurden damit endlich als Teil der US-Historie anerkannt, die bis dahin mit den Einwanderern aus Europa begann.

HOLLEIN: Museen sind per Definition konservative Einrichtungen. Die Erhaltung von Geschichte ist Teil der DNA. Nicht, weil da irgendeiner sitzt und geheim Zensur betreibt. Es liegt allein daran, wie das Haus physisch aufgeteilt ist, wie die einzelnen Abteilungen strukturiert sind.

Natürlich ist es vollkommen richtig, dass wir in manchen Bereichen spät dran sind. Wenn wir aber Veränderungen wie das Inkludieren der Native
American Kunst vornehmen, hat es unglaublichen Einfluss. Es ist wichtig, dass ein Diskurs wie dieser in das Museum eindringt. Das ist eine der Herausforderungen des MET. In den nächsten zehn Jahren werden wir mehr als ein Viertel des existierenden Galeriensystems neu aufstellen.

ART: Zurzeit wird das koloniale Erbe der westlichen Welt diskutiert und wie Museen damit umgehen sollen. Gehen Sie bei aktuellen Ausstellungen wie „Sahel: Art and Empires on the Shores of the Sahara“ mit Kulturgütern aus Westafrika auf die Problematik von Raubkunst ein?

HOLLEIN: Das Wort Raubkunst in diesem Kontext muss ich zurückweisen. Es stimmt, dass es sich um Objekte handelt, die wie alle anderen im Museum zu einem gewissen Zeitpunkt ihren Entstehungsort verlassen haben und schließlich in einer Sammlung gelandet sind. In der Sahel-Ausstellung haben wir bewusst bei jedem Objekt die gesamte Provenienz-Kette aufgeführt. (…) Wer wirklich was zurückfordern wird, muss man sehen. Wir sprechen hier nicht über konkrete Forderungen wie die Benin-Bronzen aus dem heutigen Nigeria, sondern über die Kunst eines ganzen Kontinents.

ART: Aber den kolonialen Kontext können Sie nicht außer Acht lassen.

HOLLEIN: Ich persönlich sehe es so, dass ein enzyklopädisches
Museum mit der Idee gegründet wurde, die Kulturen der Welt an einen Ort zu bringen, um dort ein gemeinsames Wissen darüber zu entwickeln und zu teilen. Das sorgt nicht nur für ein großes Museumserlebnis, sondern für das Verständnis für die Kulturen anderer.

(…) Wo sehen Sie die Zukunft eines großen enzyklopädischen Museums wie dem MET?

Grundsätzlich wachsen die Besucherzahlen von Museen weiter. Wichtig für uns ist es, keine autoritäre, lineare Geschichte über die Entwicklung der Kulturen der Welt zu erzählen. Denn in Wahrheit handelt es sich um komplexe, miteinander verwobene Geschichten. Wir werden nicht eine Art von Geschichte aufoktroyieren, sondern Geschichten komplizierter und dadurch inhaltlich engagierter machen.

BÜROTALK 1

Christian Kravagna ist Universitätsprofessor, Autor, Kritiker und Kurator. Arbeitsschwerpunkte: Postkolonialismus, Globale Moderne, Migration, Repräsentations- und Institutionskritik. Seit 2006 ist er Professor für Postcolonial Studies an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Von 2005 bis 2014 war er künstlerischer Leiter (mit Hedwig Saxenhuber) des Kunstraum Lakeside in Klagenfurt.

Die erste Frage hat das Büro für Gegenwartskunst eigentlich erst zu seinem neuen Beitrag gebracht; in unserem Beitrag „Gestern im Heute“ haben wir über Erinnerungskultur und die Erinnerung an die NS-Zeit nachgedacht, die bis heute nachwirkt. Am Ende stand die Frage: Verlangt eine globalisierte Welt nach einer neuen Art des Erinnerns?

Kravagna: Ja, natürlich bräuchte es eine neue Art von Erinnerung bzw. unterschiedliche Geschichten, an die erinnert werden muss. Und das wird ja auch teilweise gemacht. Es ist dennoch eine äußerst komplexe Fragestellung, denn auf der einen Seite hat sich die Erinnerungskultur in Bezug auf den Nationalsozialismus und Holocaust ja sehr etabliert, auf der anderen Seite gibt es auch damit noch sehr viele Probleme. Diskussionen über Denkmäler für antisemitische Politiker oder Straßenbezeichnungen für nationalsozialistische Künstler sind noch lange nicht abgeschlossen – also selbst nach so vielen Jahrzehnten eines sehr aktiven und von verschiedenen Seiten sehr stark geförderten Gedenken, gibt es etliche Fragen. Denken wir etwa an das Lueger-Denkmal in Wien. Ich will damit nur vorausschicken, dass auch nach so vielen Jahrzehnten des Gedenkens an den NS-Terror, der Prozess noch lange kein abgeschlossener ist. Der Wunsch oder die Forderung eines anderen, globalen, postkolonialen Gedenkens steht noch ganz am Anfang seiner Realisierung.

Wie wird hier überhaupt gedacht?

Auch wenn Österreich kein klassisches Kolonialland ist, sind wir alle historisch doch sehr stark involviert in den Kolonialismus bzw. verschiedene Kolonialismen. Sie alle hängen ganz stark mit neuen Rassismen zusammen, auch mit dem Antisemitismus. Auf dieser Ebene gibt es nach wie vor eigentlich sehr wenig politischen oder öffentlichen Diskurs ebenso wie die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. 

Sehen wir auf die Gegenwart in Österreich und ihre Debatten - gibt es hier keine absolute Dringlichkeit der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit?

Denken wir vielleicht mal an aktuelle, künstlerische Projekte dazu: Felix Mitterer schreibt einen Roman über Angelo Soliman, erst 2018 drehten die Regisseure Markus Schleinzer und Alexander Brom auch einen Film dazu. Das ist in gewisser Weise eine problematische Geschichte. Soliman war im 18. Jahrhundert ein Opfer von Sklaverei, Rassismus und Kolonialismus. Und jetzt rund 250 Jahre später kann sich sozusagen jeder, dem es beliebt, Soliman für seine Zwecke aneignen, einfach eine „interessante Gschicht’“ daraus machen. Ich habe Mitterers Roman noch nicht gelesen, will ihn deshalb auch nicht kritisieren, sondern ihn nur als Beispiel anführen. Andererseits realisierte 2006 die Recherchegruppe zu Schwarzer österreichischer Geschichte, eine Gruppe von Schwarzen Wissenschaftler*innen und Kunstschaffenden, ein Projekt zu Soliman bzw. zu seiner Tochter Josefine ein Projekt, das die breite Öffentlichkeit nicht erreicht hat, weil es zu politisch war und tradierte Geschichtsbilder zu sehr störte. Soliman ist ein Beispiel dafür, wie einerseits eine Persönlichkeit, die Schwarze, österreichische Geschichte repräsentiert, vergessen ist und auch vergessen gemacht wird und andererseits zum Spielball wird für alle möglichen weißen Künstler, Filmemacher, die ihre eigenen Vorstellungen darauf projizieren.

Wie blicken österreichische Museen auf dieses Thema?

Es ist wichtig, dass sich in Häusern wie etwa dem Haus der Geschichte in der Wiener Hofburg mit einer neuen Generation von Kuratoren und Kuratorinnen doch auch einiges tut. Hier will man österreichische Geschichtsaspekte, die mit Kolonialismus, Rassismus, Migration und Minderheiten zu tun haben, sehr wohl in die österreichische Geschichte einschreiben. Das hängt natürlich ab von Museumskonzepten, ein neues Haus hat hier meiner Meinung nach auch mehr Chancen als ein altes.

Ist der postkoloniale Diskurs nach Bildkritik und dem Aufbrechen des Kanons also im Museum angekommen? Wird er in Museen wie dem Humboldt Forum musealisiert?

In gewisser Weise ja, was den ersten Teil der Frage betrifft. Natürlich ist die Entwicklung um einiges komplexer: Postcolonial Studies kommen aus der Literaturwissenschaft, nach der Kritik der kolonialen Diskurse, der Diskurse des Westens, der Aufklärung, der „Rasse“ sowie des eurozentrischen Kanons drang der Postkolonialismus auch in die Kunstgeschichte ein – etwas verspätet. Nach Bildkritik und der Kritik des Ausstellens, denken wir etwa an Formate wie Welt- oder Kolonialausstellungen bis hin zu Völkerschauen, traf es letztlich erst relativ spät auf Museen im klassischen Sinn, noch später auf jene im deutschsprachigen Raum. Der englischsprachige Raum, vor allem Großbritannien und die USA, ist in der Entwicklung schon weiter. Die Debatte erreicht jetzt Museen, die direkt auf dem Kolonialismus beruhen, wie etwa anthropologische oder ethnologische Museen, deren Sammlungen eindeutig in einem kolonialen Kontext entstanden sind. Aber auch Kunstmuseen, die einen großen Anteil an Bildern von Weißen über Nicht-Weiße, also europäische Künstler über kolonialisierte Menschen ausstellen und gesammelt haben – aber kaum Kunst aus anderen Kontinenten. Auch wenn es etwa in puncto Aufbrechen des Kanons schon einige Veränderungen gegeben hat, gibt es nach wie vor viele Institutionen, die Althergebrachtes ständig bloß reproduzieren.

Mir fällt dazu spontan ein, dass Max Hollein aus dem Met in New York kürzlich berichtete, dass erst 2018 Objekte indigenen Ursprungs in die Abteilung amerikanische Geschichte integriert wurden. Vorher begann die amerikanische Geschichte mit den europäischen Einwanderern.

Ich nehme bei Max Hollein und dem Met inzwischen viel Bewegung wahr – Gott sei Dank! Ebenso wie in der Tate in London, die noch vor 20 Jahren die Geschichte der Moderne ganz anders erzählte. Es war eine weiße Geschichte, eine englische Geschichte, eine männliche Geschichte. Heute ist es immer noch eine britische Geschichte aber eine, die auf Themen wie Migration oder das koloniale Erbe der Gesellschaft Rücksicht nimmt. Das bringt heute spannende Künstler*innen zutage, die man vielleicht vor 20 Jahren schon kannte, aber nicht derart würdigte. Es wird sich wohl noch einiges tun, wir stehen – wie gesagt – ja erst am Anfang. Man könnte zum Beispiel mal darüber nachdenken, warum ästhetische Objekte heute noch in einerseits „Kunst“ und andererseits „ethnografische Objekte“ eingeteilt werden. Es wird differenziert – auch auf Institutionsebene, wo zwischen Kunstmuseum, ethnografischem Museum, Weltmuseum unterschieden wird. Ich will damit nicht behaupten, dass alles das Gleiche ist, aber diese Unterscheidungen sind in kolonialen Kontexten entstanden, im 19. Jahrhundert. Und sie bestehen in gewisser Weise weiterhin – ohne dass sie grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Was spielen Restitutionen in diesem Kontext jetzt für eine Rolle?

Ich glaube, das ist ein wichtiges Thema. Schon seit langem. Aber es ist wahnsinnig schwer, es in aller Kürze abzuhandeln, weil man es differenziert behandeln muss. Warum man bestimmte Schritte setzt, kann schließlich unterschiedliche Gründe haben: Entweder hat man selbst eingesehen, dass Unrecht geschehen ist und möchte diesen Status verändern oder es gibt politischen Druck – oder es ist eine Frage von ökonomischen Gründen, man muss im Hinterkopf behalten, wie diplomatische Beziehungen mit bestimmten Ländern funktionieren. Restitution ist für die Herkunftsländer der Objekte ein extrem wichtiges Thema, gerade weil diese Länder jahrzehntelang auf einen ganzen Strauß von Argumenten der Verweigerung stießen. Jetzt gibt es seit einiger Zeit, vor allem von Frankreich bzw. der afrikanischen Forderung an die französischen Museen ausgehend, doch einiges an Bewegung. Auch mit schon angesprochenen Zentren wie dem Humboldt Forum steigt die Relevanz des Themas. Der deutsche Diskurs hat sich ja lange radikal diesen Ansprüchen verweigert, genauso wie er sich einem Schuldbekenntnis im Bezug auf den Genozid in Namibia verweigert hat. Von Frankreich, konkret von Macron kam jetzt die Ankündigung, dass man Restitutionen tätigen wird und kurz danach – wie in einer absurden Art von Wettbewerb – meldet sich auch Deutschland zu Wort. 

Sie meinen, um den Franzosen hier nicht den Vorzug zu gewähren?

Ich sehe hier schon eine Art von Konkurrenz, die eigentlich mit dem Thema nichts zu tun hat. Es geht eigentlich um etwas anderes, es geht um euro-afrikanische Diplomatie und weniger um gesellschaftliche Entwicklung. Weiters stellt sich die Frage, welche Objekte überhaupt zurückgegeben werden. Viele Museen beharren auf dem Standpunkt, zuerst Provinienzforschung betreiben zu müssen. Das ist vielleicht auch richtig so. Auf der anderen Seite heißt das, Forschungsgelder werden beantragt, Projekte generiert, alles Maßnahmen, von denen europäische Museen und ihr Personal sozusagen finanziert werden. Und die Objekte sind aber immer noch in Europa und bleiben auch da. Das ist auch eine Verzögerungs- ich will nicht sagen -taktik, weil das klingt zu sehr nach Unterstellung – aber etwas, das den europäischen Institutionen zugute kommt. Das sind eigenartige Prozesse, die mit dem Thema verbunden sind. 

Gibt es andere Lösungsansätze?

Über das Thema Restitution könnten neue Formen von Zusammenarbeiten und Partnerschaften etabliert werden, wo von zwei Seiten her sowie von unterschiedlichen Positionen der Geschichte eine geteilte, koloniale Vergangenheit museal und auf Forschungsebene weiterbearbeitet wird – durch Austausch von Objekten etwa. Das könnte ein großes Potenzial haben.
 
 
 
 

Wechseln wir mal auf die KünstlerInnen-Seite, die sich an postkolonialen Fragen abarbeiten. Wie hat sich deren Arbeit entwickelt, welche Themen sind heute wichtig? Das Büro für Gegenwartskunst führt zur Veranschaulichung etwa Arbeiten von Yinka Shonibare an. Wir stellen ihn als frühes Beispiel für einen Künstler vor, der in seiner Kunst diskriminierende Strukturen demontiert hat.

Yinka Shonibare ist für mich gar nicht so ein „frühes Beispiel“, wie Sie ihn jetzt vorstellen, sondern immer noch ein relativ junger Künstler, auch wenn er vom Lebensalter her nicht mehr der jüngste ist. Wenn man an frühe Beispiele denken will, dann muss man in Großbritannien auf die siebziger Jahre zurückblicken, ich denke an Künstler wie Rasheed Araeen. Zu dieser Zeit gab es Künstler/innen, die postkolonial gearbeitet haben, der künstlerische Mainstream war aber noch nicht bereit, sie ernstzunehmen. Shonibare konnte in den Neunzigern bereits auf einem postkolonialen Diskurs aufbauen, der sich an Universitäten schon einigermaßen etabliert hatte. Wir haben es in den Neunzigern auch bereits mit einem weitgehend globalisierten Kunstmarkt zu tun. Eine völlig andere Ausgangssituation als in den Siebzigern. 

Welche aktuellen Arbeiten fallen Ihnen spontan ein?

In Anknüpfung an Shonibares „Nelson’s Ship in a Bottle“ am Trafalgar Square fällt mir eine Arbeit von La Vaughn Belle in Kopenhagen ein, die ich sehr spannend finde. Die Künstlerin kommt aus den Virgin Islands, einer ehemals dänischen Kolonie. Dänemark könnte man mit Österreich vergleichen, beides Länder, die nicht zu den klassischen Kolonialnationen gehören. La Vaughn Belle hat mit einer Künstlerkollegin Jeannette Ehlers die Arbeit „I am Queen Mary“ realisiert, ein monumentales Denkmal einer Schwarzen Befreiungskämpferin aus den Virgin Islands – ein Gegenentwurf zu unseren klassischen Herrscherdenkmälern. Bei dieser Arbeit kann man wirklich darüber nachdenken, welche Form Denkmäler auch bei uns annehmen könnten. Ebenso fällt mir Kehinde Wiley ein, der bekannt wurde mit seinen Porträts der Obamas; auch er hat vor Kurzem eine riesige Skulptur, eine Art Reiterdenkmal angefertigt, das einen jungen Schwarzen Mann auf einem Pferd in klassischer Heldenpose zeigt. Das spielt ganz klar auf die Südstaaten-Denkmäler an von ehemaligen Sklavenbesitzern oder rassistischen Politikern, Generälen usw. Wiley hat diese Skulptur zuerst am Times Square in New York gezeigt, später dann in Virginia installiert. Hier spielt auch der Kontext eine Rolle. Ich finde es sehr spannend, wie er hier sozusagen eine Gegenerinnerung entwirft, vor allem auch mit diesem Bezug zur Gegenwart: das Denkmal zeigt eine Figur in klassischer Heldenpose, es könnte aber auch ein junger Schwarzer Mann aus der Zeitung sein, der Opfer von rassistischer Polizeigewalt wurde.

05.07.2020-
02.08.2020

Nächster Beitrag Gegenwartskunst in Norditalien, hier.

Aus EMPIRE von Michael Hardt/Antonio Negri.

Antonio Negri, geboren 1933 in Padua, ist marxistischer Soziologe und politischer Philosoph. Er war Professor für Staatstheorie in Padua, als er Anfang der 70er Jahre den bewaffneten Aufstand propagierte und führendes Mitglied der militanten Arbeiterbewegung „Autonomia Operaia“ wurde. Nach der Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden 1978 wurde Negri in einem umstrittenen Prozess zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, die Roten Brigaden in ihren Terroranschlägen bestärkt zu haben. Noch vor einer Verurteilung wurde er 1983 für die Radikale Partei ins Europäische Parlament gewählt und floh nach Frankreich. Dort erhielt er Asyl als politischer Häftling und lehrte als Professor für Philosophie an der Sorbonne. 1997 kehrte er nach Italien zurück und saß den Rest seiner – inzwischen stark reduzierten – Strafe ab. 2003 wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Heute lebt Negri in Rom.

Qiu Zhijie, Tattoo II, 1994

Qiu Zhijie (geb. 1969) ist ausgebildeter Kalligraf. Die Kalligrafie war im kaiserlichen China vor allem den Literaten und Intellektuellen vorbehalten, die Herrscher nutzten sie aber auch, um ihre eigene Autorität zu schützen. Qiu ist mit dem Schriftzug bu (Nein) überschrieben, dessen blutrote Ausdehnung seine Körperlichkeit ignoriert. Seine Stimme wird von dem lauten NEIN zum Schweigen gebracht, seinen Mund wird davon bedeckt. In seiner Tattoo-Serie erforscht Qiu, wie das Individuum in der chinesischen Gesellschaft unsichtbar gemacht wird, wie moderne Zeichen und Codes „menschliche Wesen überwältigen und unsere Körper zu ihren Vehikeln machen“. Die Tätowierung, die sonst Individualität proklamiert, wird hier Symbol der Verweigerung und des Schweigens. (aus: Kunst und Körper, Phaidon)

BÜROTALK 2

Marijana Schneider ist Kunsthistorikerin und arbeitet als Assistenz Kuratorin am Museum der Moderne Salzburg. Dort kuratierte sie zuletzt „Bodies–Cities“ und ko-kuratierte „Sigalit Landau. Salt Years“ (2019) sowie die kommenden Ausstellungen „Fiona Tan. Mit der anderen Hand / With the other hand“ (2020) und „Yinka Shonibare CBE. End of Empire“, die von 13. März bis 4. Juli 2021 zu sehen sein wird.

Warum möchte das MdMS jetzt Yinka Shonibare CBE zeigen? Im Vergleich zur Ausstellung in der Wiener Kunsthalle 2004, welchen Schwerpunkt setzt das MdMS? 
 
Schneider: Die Ausstellung „Yinka Shonibare CBE. End of Empire“, die ursprünglich für den Sommer 2020 geplant war und aufgrund der aktuellen Covid-19-Situation auf das Frühjahr 2021 verschoben werden musste, wird die bisher umfassendste Überblicksausstellung des Künstlers im deutschsprachigen Raum sein und wird von frühen Arbeiten der 1990er-Jahre bis hin zu den Werkgruppen der letzten Jahre umfassen. Wir werden die unterschiedlichen Medien versammeln, mit denen der Künstler arbeitet. Bereits in frühen Werken äußert sich seine einzigartige künstlerische Sprache, mit der er auf poetische, spielerische und humorvolle Weise Themen verhandelt, die von großer Ernsthaftigkeit sind. Fragen nach Alterität, Identität und Herkunft, nach den Auswirkungen von Kolonialismus und der Bedeutung von Grenzen, die er in seinen Arbeiten transportiert, bestimmen unser Zusammenleben und unsere Gegenwart.
 
Was meint der Titel „End of Empire“? 
 
Der Ausstellungstitel nimmt Bezug auf die gleichnamige Arbeit von Shonibare aus dem Jahr 2016. Die lebensgroße Skulptur zeigt zwei männliche Figuren, die sich auf einer Wippe auf und ab bewegen und sich dabei grüßen. Sie tragen Kostüme im viktorianischen Stil aus der Zeit des British Empire, die aus bunten, vermeintlich „afrikanischen“Batikstoffen geschneidert sind. Es sind hybride Wesen, die anstelle von Köpfen Globen mit Weltkarten haben, auf denen die geopolitischen Grenzen um 1917 verzeichnet sind. Diese Machtverhältnisse sind wie die Stoffe ein Produkt der europäischen Expansion und des Kolonialismus. Die Auftragsarbeit „End of Empire“ entstand in Gedenken an den Ersten Weltkrieg und in Auseinandersetzung mit seinen globalen Auswirkungen, die auch die Biografie des Künstlers beeinflussten. Aufgrund seiner britisch-nigerianischer Herkunft bezeichnet sich Shonibare selbst als „kulturellen Hybriden“: 1962 wurde er in London geboren, aufgewachsen ist er in Nigeria und für das Kunststudium kehrte er wieder nach London zurück, wo er seitdem lebt und arbeitet. 2019 erhielt er den Titel „Commander of the British Empire“, was eine gewisse Ironie mit sich bringt, wenn man seine Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und dem Empire bedenkt; danach präsentierte sich Yinka beruflich als „Yinka Shonibare CBE“. Das Szenario von „End of Empire“, an dessen Themenspektrum sich auch die Ausstellung orientiert, ist eine Metapher für diese Transformationsprozesse, Dialoge, Balanceakte und Konflikte, und stellt Fragen nach Möglichkeiten von Kompromissen und Lösungen. 
 
Wie hat sich sein Oeuvre in den letzten 30 Jahren entwickelt?
 
Shonibare arbeitete in den 1990er- und 2000er-Jahren meist mit Fotografie, Installation und Skulptur und erweitert sein multimediales Spektrum ständig, es umfasst inzwischen auch drei Filme. Einem großen internationalen Publikum wurde er 2002 auf der Documenta 11 durch die kopflose Skulpturengruppe „Gallantry and Criminal Conversation“ bekannt. Seit er 2010 für das renommierte öffentliche Kunstprojekt auf dem Trafalgar Square in London mit der Arbeit „Nelson’s Ship in a Bottle“ eingeladen wurde, entwickelte er die Werkserie „Wind Sculptures“ für den Außenraum und in den letzten Jahren sind noch die Druckgrafik und Collage hinzugekommen. Kernthemen wie Identität und Kolonialismus aktualisiert Shonibare durch neue Perspektiven und zeitgenössische Konflikte, wie den Arabischen Frühling, Klimawandel und Fragen zu Migration.
 
Welche sind die typischsten Motive/Techniken/Materialien für Shonibare? Wie werden sie interpretiert? 
 
Einzigartig sind die bunten Stoffe, aus denen er Kleider für seine kopflosen Skulpturen und hybriden Figuren schneidern lässt, sowie das Aufgreifen von Bildern und Episoden aus der europäischen Kunstgeschichte. Dabei benutzt er die theatrale Inszenierung, Schönheit und das ironische Spiel als Strategien. Sowohl das „Gute“ als auch das „Böse“ haben eine faszinierende Anziehung. 
 
Wie lässt sich das Theatralische bei Shonibare mit dem postkolonialen Blick verbinden? 
 
Shonibare benutzt das Performative des Theatralischen, indem er beispielsweise sich selbst in der Rolle eines Dandys inmitten der britischen Upperclass in der fotografischen Serie „Diary of a Victorian Dandy“ von 2001 inszeniert. Damit verweist er auf die Rolle des „Black Dandyism“ im British Empire: Versklavte, junge Männer aus Afrika und der Karibik wurden dazu gezwungen, den Reichtum ihrer „masters“ als Zierde zu demonstrieren. Manchen gelang es, sich ihr Schicksal zunutze zu machen und ihren Status innerhalb der Gesellschaft zu einem gewissen Grad vom Objekt zum Subjekt umzukehren. Shonibare geht es in seinen Arbeiten aber nicht um eine historisch korrekte Darstellung von Geschichte, sondern darum, eine Illusion zu kreieren, damit wir unsere Wahrnehmung von kategorialen Zuordnungen wie„schwarz“ und „weiß“ und Stereotypien kritisch hinterfragen. Zudem waren die Opulenz, der Glanz und der Reichtum der europäischen Aristokratie, denen man in seinen Arbeiten häufig begegnet, nur durch die Ausbeutung anderer Kulturen möglich.
 
Würden Sie sagen, die derzeitige Diskussion um Restitutionen/Rückgabe von Kolonialobjekten hat den Blick auf die Kunst von Shonibare verändert? 
 
Künstlerinnen und Künstler, wie zum Beispiel Kader Attia, sind in diesen Diskurs konkreter eingebunden als Yinka Shonbiare CBE. Wofür jedoch seine Kunst in diesem Kontext sensibilisiert, ist das Überdenken von westlichen und eurozentristischen Strukturen und Machtverhältnissen. Museen sind ein Flechtwerk von Beziehungen, die meist auf einem westlichen Konzept basieren, das von der westlichen Welt als die Norm vertreten wird. Dies betrifft zum Beispiel konservatorische Standards. In den Diskussionen um die Restitutionen werden die Probleme der Kolonialisierung somit häufig reproduziert und über das Museum als Form übertragen – das sehe ich durchaus kritisch. 

Yinka Shonibare, CBE (9. August 1962) ist ein britisch-nigerianischer Künstler, der vor allem durch die Arbeit mit Dutch Wax, bedruckten, farbenprächtigen Baumwollstoffen bekannt geworden ist.[1] Shonibare entdeckte durch einen Zufall auf dem Brixton Market in London, dass die Dutch Wax Stoffe, aus denen ein professioneller Kostümbildner die viktorianische Kleidung für ihn herstellt, ursprünglich von den Niederländern entdeckt wurden.

Bild: Nelson’s Ship in a Bottle. The sculpture is 3.25 metres high and 5 metres long and weighs 4 tons.

„For me it’s a celebration of London’s immense ethnic wealth,
giving expression to and honouring the many cultures and ethnicties
that are still breathing precious wind into the sails of the United Kingdom.“

This has - the Fuck - nothing to do with austria! oh, wait...

dIGI WühLTISCH

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Animation: Seth Brau #WearOrange

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