Spannendes Spätwerk: Elisabeth Wild schuf abstrakt-surreale Collagen.
Foto: Markus Woergoetter © Estate of Elisabeth Wild, 2023 commissioned by documenta 14. Courtesy of the Artist‘s Estate; Karma International, Zurich

Sperrangelweit steht die Hintertür zum Garten der Wiener Secession offen. Die bunten Bilder von Vivian Suter bewegen sich leicht im Wind, der in den Ausstellungsraum weht. Die unbespannten Leinwände hängen übereinander oder liegen auf dem Fußboden. Insgesamt sind es rund 350 Arbeiten der 73-jährigen Malerin, die in der Schau in Wien präsentiert werden.

Und das nur wenige hundert Meter entfernt von der bisher umfassendsten Retrospektive ihrer Mutter Elisabeth Wild im Mumok. In der ebenfalls gelungenen Präsentation werden dort das bisher unbekannte Früh- sowie das spannende Spätwerk auf zwei Etagen verbunden. Dass beide Ausstellungen zeitgleich eröffnen, ist einem Zufall geschuldet, da sich die Projekte durch die Pandemie verschoben.

Offene Tür: Malerin Vivian Suter in ihrer Ausstellung in der Wiener Secession.
Foto: Heribert Corn

Nun zeigt genau jene Stadt das Schaffen von Mutter und Tochter, in der Wild 1922 als Kind einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters geboren wurde und aus der sie 1938 flüchten musste. Im Exil in Argentinien studierte sie Malerei und war als Textildesignerin tätig. Sie lernte ihren zukünftigen Mann, den Schweizer August Wild, kennen und brachte 1949 ihre Tochter Vivian zur Welt. Wegen rechtsradikaler Tendenzen floh die Familie 1962 nach Basel, wo Elisabeth Wild drei Jahrzehnte einen Antiquitätenladen führte.

Die gebürtige Wienerin starb 2020 in Guatemala.
Foto: Courtesy the Estate of Elisabeth Wild and Karma International, Zurich

Turbulente Biografie

Tochter Vivian besuchte als Kind und junge Frau oft ihre Großeltern, die sich in Österreich niedergelassen hatten, und lernte die Kunsteinrichtungen – auch die Wiener Secession – kennen. Obwohl sie später als Malerin lokal Erfolg hatte, übersiedelte sie 1983 nach Guatemala und zog sich auf einer ehemaligen Kaffeeplantage in Panajachel aus der Kunstszene zurück.

Bis heute lebt die Künstlerin auf dem riesigen Grundstück mitten im Dschungel – bis zum Tod ihrer Mutter 2020 lebte sie Tür an Tür mit ihr. Diese war ihrer Tochter 1996 in die neue Heimat gefolgt und arbeitete bis zu ihrem Ableben akribisch weiter. Der im Mumok gezeigte Film Vivian’s Garden von Rosalind Nashashibi gibt wunderbare Einblicke in dieses Zusammenleben.

Vivian Suter braucht frische Luft zum Arbeiten – und wollte Wien in den Ausstellungsraum der Secession holen.
Foto: Secession / Lisa Rastl

Die turbulente Biografie von Elisabeth Wild gilt mit als Grund, weshalb die Künstlerin erst so spät Bekanntheit erlangte. Erst auf der Documenta 14 im Jahr 2017 bot der Kurator Adam Szymczyk der damals 95-Jährigen eine Bühne und zeigte ihre Collagen gemeinsam mit Gemälden von Vivian in Kassel. Das Werk der Tochter erfuhr eine Wiederbelebung, jenes der Mutter wurde zur beachteten Neuentdeckung.

Welche Auswirkungen Letztere hatte, zeigt die Retrospektive im Mumok. Kuratorin Marianne Dobner wurde 2017, wie viele Kunstinteressierte, auf die träumerischen, abstrakten Papiercollagen von Wild aufmerksam. In produktiver Routine schuf die Künstlerin, die nach einem Unfall im Rollstuhl saß, täglich eine Collage im A4-Format. Aus Hochglanzmagazinen schnitt sie Formen, Muster und Alltagsobjekte aus und bildete fragmentarisch-surreale Kosmen, sogenannte "Fantasías". 365 Stück davon wurden für die Schau Fantasiefabrik ausgewählt und auf abgerundete Stellwände in Pastelltönen verteilt.

Gelungene Präsentation: 365 der Collagen von Elisabeth Wild wurden im Mumok auf abgerundeten Stellwänden in Pastelltönen verteilt.
Foto: Klaus Pichler / Mumok

Diese klimafreundliche und ästhetische Karton-Architektur (Gestaltung: Meyer-Grohbruegge, Produktion: Papplab GmbH) kommt auch bei der Präsentation des Frühwerks zum Einsatz: Umgeben von einer Fototapete des Gartens in Panajachel reinszeniert eine schematische Hütte die letzte Heimat der Künstlerin. Darin finden sich frühe figurative Zeichnungen und Gemälde. In ihren bunten Textilentwürfe kündigte sich bereits ein Hang zur Abstraktion an.

Natur als Assistent

Diese könnte man als Brücke zum Werk ihrer Tochter verstehen, das dennoch eine gänzlich andere Sprache spricht. Auf den großformatigen Leinwänden sind breite, gestische Bahnen, Formen und ab und zu Tiermotive zu erkennen. Um diese Freiheit sei sie von ihrer Mutter immer beneidet worden, erzählt Suter. "Ich bewunderte wiederum ihre Exaktheit. Obwohl wir eine so innige Beziehung hatten, bekam ich zwar ihre Bilder zu Gesicht, sie meine aber nicht", sagt sie lachend. Viel zu kritisch sei ihre Mutter gewesen.

Umgeben von einer Fototapete des Gartens in Panajachel reinszeniert eine Hütte die letzte Heimat der Künstlerin – samt Frühwerk an den Wänden.
Foto: Klaus Pichler / mumok

Einen künstlerischen Wendepunkt in Suters Schaffen markierte ein Erdrutsch durch den Tropensturm Stan 2005, der ihr Atelier mit Schlamm flutete. Zuerst dachte sie, ihre Werke seien zerstört. Doch dann erkannte die Künstlerin eine Symbiose von Kunst und Natur.

Der Dschungel in Panajachel fungiert seitdem als Studio und Assistent zugleich. Die Natur ist unmittelbarer Teil ihrer Werke: Darauf finden sich Laub, Erde und Pfotenabdrücke ihrer Hunde. Ähnlich wie bei den Collagen ihrer Mutter braucht es genauere Betrachtung, um Details zu erkennen.

Spuren der Natur: Vivian Suter erschafft ihre Werke outdoor im Dschungel in Panajachel.
Foto: Vivian Suter

Ohne frische Luft könne die Künstlerin jedenfalls nicht mehr arbeiten. Durch die geöffnete Tür wollte sie aber auch "etwas Wien" hinein in die Secession holen. (Katharina Rustler, 3.5.2023)