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Was macht Gegenwartskunst mit uns?

Jetzt wird gefühlt.

Und ein bisschen gespielt! Nachdem wir uns in unserem ersten Beitrag mit den (Nicht)-Möglichkeiten der Gegenwartskunst in einem kalten, digitalen Raum beschäftigt, gekopft, gefragt und analysiert haben, müssen wir jetzt entschlacken.

N U R   M E H R   F Ü H L E N.

Ist euch zu esoterisch? Haben wir zuerst auch vermutet und uns dann doch gefragt: Was macht Gegenwartskunst mit uns? Bewegt uns eine Skulptur? Ist Konzept sinnlich? Und (ver)mögen wir das überhaupt noch, das Fühlen?

Wir haben das Experiment gemacht, sozusagen ein Spiel gespielt. Und uns gleich mehrere Male rein auf die Kunst konzentriert – ohne den theoretischen Aufbau, Interpretationen und Hintergründe zu inhalieren. Warum? Eine Studie der Uni Basel zeigt, dass die Kunst quasi für sich sprechen kann und den Subtext eigentlich nicht braucht, um uns zu erregen. Studienautorin Luisa Krauss erklärt uns die Ergebnisse ihrer Studie. Und was für ein Zufall: Eine Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München stellt diese These derzeit auf die Probe – mit hochkarätiger Gegenwartskunst. Bildunterschriften und Extracontent gibt es in “Feelings. Kunst und Emotion” von Kuratorin Nicola Graef dabei absichtlich nicht. Warum hat uns die Filmemacherin nach unserem Besuch in der Ausstellung in München selbst im Gespräch erzählt.

So richtig  G E F Ü H L T  haben wir zuletzt in der Ausstellung von Bunny Rogers im Kunsthaus Bregenz, die wir – weil bereits abgelaufen – hier bildlich und mit den Worten der Künstlerin selbst nochmal auferstehen lassen. In unterschiedlichen, begehbaren Bildern wurde es für uns düster, weltschmerzig aber auch reinigend. Versprochen, es gibt bei Bunny Rogers nicht nur Trauer zu fühlen. Sondern auch tausende (!) neue Fragen, die uns sogar wieder ein stückweit zu unserem ersten Beitrag zurückwerfen. Können Bilder von Kunst ebenso Gefühle auslösen? Sind Reaktionen auf Instagram eigentlich auch Gefühle? Aber, alles der Reihe nach. Zuerst wird gefühlt.

"Wir besitzen von der Welt nur formlose, fragmentarische Vorstellungen, die wir durch willkürliche Ideenassoziationen vervollständigen, aus denen sich gefährliche Suggestionen ergeben."

Marcel Proust - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Luisa Krauss (* 1990)

ist eine deutsche Psychologin, die sich mit der Erforschung von Kunstwahrnehmung beschäftigt. Sie studierte an der Uni Basel und schloss ihr Studium mit der Arbeit „Art in Context – Impact of Contextualizing on Aesthetic Experience“ ab. Heute arbeitet sie als Assistenz der Museumsleitung in der Kunsthalle Weishaupt in Ulm.

1x Bilder
ohne Schilder,
bitte!

Die Reinheit des völlig weißen Bildes habe sie provoziert, gibt eine Frau 2007 vor einem Gericht in Avignon zu Protokoll. Sie war geladen worden, weil sie zuvor in einer Ausstellung in der südfranzösischen Stadt ein unschuldig weißes Gemälde von Cy Twombly einfach geküsst hatte. Süß? Eher ein Big Fail, denn der rote Kussmund, den Rindy Sam auf dem rund zwei Millionen Euro teuren Werk hinterlassen hatte, musste aufwendig weg-restauriert werden. Sie habe aus“Liebe von starker Reinheit” gehandelt, sagte Sam, “durch die Macht der Kunst provoziert”. Dass Kunstwerke im Betrachter*in die ganz großen Gefühle auslösen können, ist nicht erst seit Marina Abramovics tränenreichem “The artist is present” glasklar. Dass bei vielen Kunstwerken im Kopfkino der Vorhang aber klemmt, ebenso. Freude, Trauer, Angst – nur zu oft erhoffen wir uns die große Erleuchtung dann wenigstens aus den dazugehörigen Texten. “Wir sind es gewohnt, Infos zugeliefert zu bekommen”, meint auch Nicola Graef in einem Büro-Talk über Skype, deren Ausstellung “Feelings. Kunst und Emotion” gerade in der Münchner Pinakothek der Moderne zu fühlen ist. Zu fühlen? Ja, zu fühlen. Und genau diesem Fühlen wollte Luisa Krauss in einer Studie näherkommen, in der sie Probanden mit und ohne Infos in eine Ausstellung in Basel geschickt hat. Ihre These: Kunst spricht für sich selbst. Aber lasst euch das von der Psychologin selbst erklären.

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Zurück zum Ausstellungsexperiment in München: Saaltexte? Kann man hier suchen gehen! Maßangaben? Fehlanzeige! Namen der Kunstschaffenden? Pah! Jahr? Technik? Nein, danke. Bitte gebt uns etwas, schreien Besucher*innen innerlich. Aber nein, “Feelings” bleibt eine Ausstellung aus Bilder ohne Schilder. Kunst pur.

Angsteinflößend einfach ist die (Spiel)-Anleitung zu “Feelings”: 

1. Geh in die Ausstellung

2. Schau dir die Ausstellung an

3. Fühle

4. Tue nichts

5. Fühle weiter

Wir haben das Experiment gemacht. Und unsere Emotionen zu "Modern Moses" von Elmgreen & Dragset verschriftlicht. 

Christa: „Die Vorstellung, ein Baby auf der Straße abzulegen, ist fürchterlich. Bei dieser Szene kommt mir sofort eine anonyme Großstadt in den Sinn, in der ein Schwarm von Arbeiterbienen in Zwei-Quadratmeter-Wohnungen zusammengepfercht leben und in der der öffentliche Raum lieber nicht benutzt wird. Das Private wird hier dem Öffentlichen gegenübergestellt. … Ich würde den Automaten auch gern benutzen, was soll da rauskommen? Ich mag es, wie das Werk aufgebaut ist. Ein ernsthafter Schmäh. Zuerst bin ich verdutzt, erschrocken, überrascht, schon bald setzt sich eine Botschaft durch… die Arbeit bringt mich zum Schmunzeln. Die nicht vorhandene Funktion erinnert mich an Prada Marfa, ein Geschäft mitten in der Wüste ohne Eingang.”

Barbara: “Haha! Ja, ich versteh’s sofort: Baby haha, Bancomat haha. Aber… wurde es ausgesetzt? Moses im Babybjörn vor dem Geldautomaten vergessen? Ich empfinde Mitleid. Ja, mit jenen, die hier ankommen und das Baby für echt halten. …
Unberührt lässt mich die Arbeit tatsächlich nicht. In mir steigt ein unheimliches Gefühl auf. Die Szene erscheint unwirklich, widersprüchlich. Auf der einen Seite gibt es menschliche Wärme, etwas Verletzliches, Organisches, ein Symbol für Entwicklung und Aufbruch – auf der anderen Seite entmenschlichte, technische Kälte, eine Maschine, ein Symbol für Entwicklung und Abhängigkeit von ökonomischer Vorherrschaft. Mein Gefühl wird vom Widerspruch gedämpft. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll oder fühlen darf.”

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Was Graef erklärt, funktioniert wirklich: „Jedes Bild, jede Skulptur, jedes Video stellt eine Verbindung zu uns, die es betrachten, her. Dekodiert wird diese Verbindung, aufgrund von unserer Biografie, unseren Erfahrungen und unserer Seh-Erfahrung. Es geht in ‘Feelings’ nicht darum, Kunst zu bewerten, sondern um den tiefen Dialog zwischen der Kunst und dem, was ich sehe.” Und es geht noch schöner: „Ich muss mir wieder vertrauen, dass ich sehen kann.” Okay, lasst uns an dieser Stelle erstmal durchschnaufen.

Weiter: Die Schau ist nicht nur ein Experiment für Besucher*innen, sondern auch für das Museum selbst, berichtet Co-Kuratorin (gemeinsam mit Bernhart Schwenk) und Dokumentarfilmerin Nicola Graef. Da fällt natürlich auch das Stichwort Demokratisierung. „So wie ich es mit meinen Filmen versuche, war es mein Anliegen, deutlich zu machen, dass es egal ist, mit welchem Hintergrund man sich der Gegenwartskunst zuwendet. Ich brauche nicht unbedingt einen Doktortitel, ich brauche nicht unbedingt großes Vorwissen; es gibt für jeden die Möglichkeit, einen Zugang zur Kunst herzustellen”, meint Graef.

10.05.2020-
30.05.2020

Nächster Beitrag „Das Gestern im Heute für morgen“, hier.

Von schlechten Erfahrungen hatte die Kuratorin die Schnauze voll: „Im Laufe der letzten Jahre habe ich festgestellt, dass mich die Kunst, die ich sehe oder zumindest die Art, wie sie mir präsentiert wird, mich zunehmend in Distanz setzte.” Der documenta, der Biennale in Venedig oder der Berlin Biennale fehlte es für die Filmemacherin an purer Lust an der Emotion und Sinnlichkeit. Warum scheut man sich davor? Warum werde im deutschen Feuilleton etwa figurative Malerei oftmals belächelt, fragt sich Graef. Was oft fehlt, hat sie in München hingehängt, Malerei von Marlene Dumas und Stephan Melzl, Fotografie von Cindy Sherman, Skulpturales von Elmgreen & Dragset, ein Video von Alex Da Corte. Und viiiiiiieles mehr. Graefs Fazit angesichts der gewichtigen Auswahl:

„Die Gegenwarts-kunst ist hochemotional.”

Was die Arbeiten in Besucher*innen erzeugen, schlägt sich in Münchner Gästebüchern nieder. Ja, richtig gelesen: Bücher, Mehrzahl: „Wir haben noch vor der Schließung das fünfte aufgelegt”, zählt Graef nach. Darin wird festgehalten, die Ausstellung sorgt auch für Irritation. Erfüllt das Museum etwa plötzlich ihre Aufgabe nicht mehr, würden sich laut Graef auch einige Besucher*innen schriftlich fragen. Für die Kuratorin gewinnt aber in jedem Fall das Experiment: „Auch große Museen sehen, es gibt neben dem klassischen kunsthistorischen Aufbau, andere Bedürfnisse, auch in der Art wie wir Kunst neu erfahrbar machen wollen und auch müssen. Ein Museum muss auch auf neue Wahrnehmungsweisen reagieren.” 

Und das Museum müsse ein wacher Raum bleiben, meint Graef. Übrigens das schönste Zitat des Gesprächs mit der Filmemacherin:

„Der Raum muss sagen, kommt her, schaut euch um, danach reden wir darüber.”

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Nochmal zum Verinnerlichen: …kommt her schaut euch um, danach reden wir darüber…

Nicola Graefs Lieblingswerk in der Münchner Ausstellung ist übrigens Alexandra Ranners Video „Flur”. Kommunikation auf klassische Weise gibt es in diesem scheinbar unendlichen, dahinfließend düsteren Video nicht. Irritation, Trauer, Verzweiflung manifestiert sich über Atmosphäre.

Ein Fühlbeispiel: Du schöne Traurigkeit

Apropos Trauer und Atmosphäre: Richtig krass gefühlt hat – zumindest das Büro für Gegenwartskunst – zuletzt in der ersten Einzelschau des Kunsthauses Bregenz 2020. Was könnte mehr Emotion auslösen, als ein Begräbnis? Oder besser: Welche Gefühle löst der Gedanke an die eigene Bestattung aus? Die US-Künstlerin Bunny Rogers (*1990) hat sich diese (gruselige?) Vorstellung auf vier Ebenen gebaut. In begehbaren Bildern mischte sich zu violettem Tüll, blau gefärbten Rosen, dem Duft von feuchtem Gras und elektronischen Glühwürmchen Müll, die Reste eines hysterischen Totenfestes, in Beton gebannte Naturschönheit und am Schluss … eine nebelige Duschlandschaft. Von Gefühlen wie Trauer kann man sich reinigen, sie sind wieder abwaschbar, so die Essenz des finalen Raums im KUB.

Und jetzt alle Kopfkino:
  1. Geh in die Ausstellung
  2. Schau dir die Ausstellung (über Bilder und Audio) an
  3. Fühle (und sieh dir an wie sie riecht)
  4. Tue nichts
  5. Fühle weiter

 

 Na? Funktionierts?

Credit 1

AMELIE VON WULFFEN OHNE TITEL, 2011

Acryl, Tusche auf Leinwand,
200 x 140 cm
2016 erworben von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V.
Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen
© Amelie von Wulffen, courtesy
Gió Marconi, Mailand / Galerie
Meyer Kainer, Wien / Freedman
Fitzpatrick, Los Angeles

Credit 2 

MICHAEL ELMGREEN & INGAR DRAGSET

Michael Elmgreen & Ingar Dragset

Modern Moses, 2006

Babytragetasche, Wachsfigur, Decke, Geldautomat

Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Johannes Haslinger

© VG Bild-Kunst Bonn, 2019

Courtesy Sammlung Goetz, München

Credit 3

Ausstellungsansicht in der Pinakothek der Moderne
Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Johannes Haslinger

dIGI WühLTISCH

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