FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Hanya Yanagihara

APA/AFP/Niklas HALLE'N

Mit Hanya Yanagihara „Zum Paradies“

Hanya Yanagiharas Bestseller „Ein wenig Leben“ wird wohl nie verfilmt werden, doch vielleicht sieht es für ihr neues Buch, das heute erscheint, besser aus: „Zum Paradies“ ist gleich drei Bücher in einem, das zwei Jahrhunderte Geschichten und US-amerikanische Geschichte umspannt. Hanya Yanagihara begeistert erneut mit ihrem Zugang zur Welt und ihrem Ton.

Von Maria Motter

All ihre Romane handeln ultimativ von Einsamkeit und Scham, sagt Hanya Yanagihara vor der Veröffentlichung ihres neuen Buchs dem „Sydney Morning Herald“. Ihr Bestseller „Ein wenig Leben / A Little Life“ hat Leser*innen begeistert und erschüttert, einige jedoch auch angewidert. Eigentlich sollte die Freundschaftsgeschichte „Ein wenig Leben“ verfilmt werden, aber daraus wird wohl nichts. Zu düster, zu traurig sei die Handlung allen Streamingdiensten und Hanya Yanagihara, die tagsüber das Stilmagazin „T“ der New York Times leitet und in den Nächten Romane schreibt, ist nicht bekannt für Kompromissfreudigkeit.

Hanya Yanagihara nach einer Lesung am 8. März 2019 in Berlin.

Maria Motter

Hanya Yanagihara 2019 in Berlin, wo sie hunderte Bücher signierte und vor 1.400 Zuhörer*innen gelesen hatte.

Jetzt allerdings erscheint Hanya Yanagiharas neuer Roman, zeitgleich im englischsprachigen Original und in der deutschsprachigen Übersetzung. So wird das auch mit Michel Houellebecqs „Vernichten“ gemacht.

„Zum Paradies“ ist der alles versprechende Titel und das Buch könnte den Fanclub von „A Little Life“ ziemlich fordern, weil es sich doch sehr unterscheidet: Hanya Yanagihara setzt die Jahre 1893, 1993 und 2093 als Eckpfeiler und bringt drei Bücher zu einem Ganzen. (Als sie ihrem Verleger mitgeteilt hat, sie würde an drei Geschichten arbeiten, die sie in einem Buch zusammenführen wolle, habe der erwidert, dass es nicht sicher sei, ob der Buchrücken das trage. „Zum Paradies“ hat fast 900 Seiten. Um es bequem zu lesen, legt man am besten ein dünneres Buch auf einer Seite unter.)

Was-wäre-wenn-Fragen sind die Ausgangsposition für „Zum Paradies“ gewesen. „Amerika ist so ein junges Land. Was, wenn etwas nur leicht anders gelaufen wäre?“, sagt Hanya Yanagihara gestern Abend im Gespräch mit Barrie Hardymon beim ersten Buchgespräch in Washington, DC. Sie wollte, dass eine Geschichte ganz ihr gehört. Sehr viele Menschen sind aus der Geschichte regelrecht hinausgeschrieben worden, gibt die Journalistin und Autorin zu bedenken. Sich selbst wieder in die Geschichte einzuschreiben, sei jetzt noch ein kleines Phänomen, das ihr auffällt. Dass sie das mit „Zum Paradies“ auch vorgehabt hätte, sagt sie nicht. Vielmehr stellt sie dazu in den Raum: „Was ist, wenn es nicht wir sind, die die Geschichte unseres Landes schreiben, sondern wenn es die Geschichte ist, die uns schreibt und formt?“

200 Jahre mit Davids, Charles’ und Edwards

„Zum Paradies“ umfasst 200 Jahre. Hanya Yanagihara führt in ein Herrschaftshaus am Washington Square in New York, das schon zu Beginn mit Warmwasserleitungen ausgestattet ist und das durch die Zeiten bewohnt wird von Davids und Charles’, dann noch einem weiblichen Nachkommen – Charlie. Erneut sind die meisten Hauptfiguren Männer, die Männer lieben, und mit deren Lebens- und Leidensgeschichten Menschheitsfragen zu einer hinreißenden Sprache kommen. Die Nachnamen haben sie von Missionaren, sie sind Binghams, Griffiths und Bishops. Kolonialismus, Adoptionen, der Kampf um Demokratie und persönliche Freiheiten, Liebe und Abschied sind unter den zahlreichen Themen des Buchs, nicht außer Acht zu lassen die Bedrohung durch Seuchen, die im ersten Buch nur kurz erwähnt wird und sich bis ins dritte Buch „Zone Acht“ extrem steigert.

Am Titel des Buchs "Zum Paradies" ist ein Gemälde: "I'okepa,  Hawaiianischer Fischerjunge" vom niederländischen Maler Hubert Vos.

Ullstein

Am Titel des Buchs „Zum Paradies“ ist ein Gemälde: „I’okepa, Hawaiianischer Fischerjunge" vom niederländischen Maler Hubert Vos (1855-1935)."Zum Paradies“ von Hanya Yanagihara ist 2022 bei Ullstein erschienen, in der deutschsprachigen Übersetzung vom großartigen Stephan Kleiner.

Schon im ersten Buch dreht die Vorstellungskraft Hanya Yanagiharas historische Umstände mit einem Trick. David Bingham, dessen Ururgroßvater Edmund als einer der Gründungsväter der Freistaaten etabliert wird und in den Freistaaten können gleichgeschlechtliche Verbindungen rechtsverbindlich werden, soll endlich mit einem Mann verlobt werden. Die USA gibt es in dieser Fiktion nicht: Es gibt keine Vereinigten Staaten, sondern einen autoritären Süden, aus dem Menschen fliehen, um in die Freistaaten zu kommen. Doch die Haltung gegenüber Schwarzen wird zwar diskutiert, aber die Freiheiten gibt es nur für reiche Weiße. David, das Liebkind des wohlhabenden Großvaters, aber wird sich in einen jungen Mann verlieben, der nicht standesgemäß erscheint – dann aber ganz andere Schwierigkeiten mit sich bringen könnte.

Diese Raserei des Herzens eines trübsinnigen Erben ist geschmeidig geschrieben. Über die Verliebtheit Davids also taumelt man in diesen Roman, der die Frage nach der Freiheit stellt. Gerade ist man sehr interessiert an Davids Fortkommen, da endet Buch 1 recht abrupt mit den Worten „zum Paradies“ – wie auch die folgenden Bücher.

Und wie das Haus am Washington Square reichlich ausgestattet ist, ist auch jedes der drei Bücher in „Zum Paradies“ mit viel Leben gefüllt. Und selbst in diese Lebensgeschichten sind noch kleine, sehr fein gefertigte Erzählungen und Miniaturen gepackt, etwa ein Unfalltod eines Kindes und ein Säugling, der nur wenige Tage leben wird.

Hanya Yanagihara führt erstmals nach Hawaii

1893, das Jahr, in dem „Zum Paradies“ beginnt, ist auch das Jahr gewesen, in dem in der Realität die USA die letzte hawaiianische Königin stürzen. Die Idee eines Paradieses auf Erden treibt in Buch Zwei „Lipo-wao-nahele“ einen unguten Edward voran und wird sich jedoch für einen anderen als Weg in die Psychiatrie erweisen. „Lip-wao-nahele“ – „eine Wendung, die gesungen werden, die unter der Zunge getragen werden wollte“ – ist das Hirngespinst dieses Edwards, sich ein kleines Hawaii nach seinen Vorstellungen zu errichten.

Ein recht lebensfremder Nachkomme der zuvor königlichen Familie Hawaiis ließ sich auf diesen Edwards ein, zog mit ihm und seinem Buben auf ein zwölf Hektar großes, unbestelltes Grundstück.
Sein Sohn hat ihn, die Inseln und seine Herkunft hinter sich gelassen und führt in New York eine Beziehung mit einem dreißig Jahre älteren Anwalt – Charles Griffith. Die Kennenlernszene im tintenbefleckten Hemd auf der Toilette der Chefetage ist charmant und schon ist man wieder angetan vom nächsten Ensemble. In New York, im Haus am Washington Square, wird die Beziehung anhand eines Abschieds ausgebreitet: Der Anwalt Charles Griffith gibt ein letztes Abendessen im Freundeskreis für einen Sterbenden. 1993 ist die Plage Aids, aber der Betroffene winkt scherzend ab: Bei ihm sei es Krebs.

In „Zone Acht“ toben Pandemien und Wetter

Innere Monologe, erklärende Einschübe und ein halber Briefroman finden sich in „Zum Paradies“. Hanya Yanagihara beginnt 2016, nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, mit Wissenschaftler*innen über mögliche zukünftige Bedrohungen zu sprechen. Schnell war nicht allein Autoritarismus das Thema, sondern sie fragte nach der nächsten großen Pandemie.

Während Covid-19 das New Yorker Leben in die Wohnungen trieb, hatte Hanya Yanagihara zuhause Kontrolle über die Pandemien in „Zone Acht“: Im dritten und umfangreichsten Buch ist von Freiheit nicht mehr viel übrig. In 72 Jahren von 2022 aus gerechnet, im Jahr 2094, ist New York ein dystopischer Polizeistaat, dessen Bevölkerung Überlebende von Stürmen, Hitze und Pandemien sind. Aber die Charaktere halten private Beziehungen aufrecht oder versuchen es.

Pessimist*innen, wenn nicht Realist*innen, könnten an diesem Entwurf viel allzu vertraut finden. Jahrzehnte vor dem bitteren Ende 2094 traf eine Pandemie in erster Linie Kinder. Das Schicksal der letzten Charles’ und Charlies erfahren die Leser*innen aus einem Briefwechsel.

Begegnungen mit Hanya Yanagihara zum Nachlesen gibt es beim New Yorker und im Guardian.

Hanya Yanagihara schreibt beherzt von einer höchst grausamen Zukunft. Hat sie mit „Das Volk der Bäume“ eine gewaltige Geschichte der Zivilisation und ihrer zerstörerischen Kraft dargelegt (heute findet sie ihr Debüt „künstlich kalt“), so bringt ihr neuer Roman menschliche Verhältnisse und Beziehungen, die für viele „Ein wenig Leben“ so ausgemacht haben, mit Fragen unserer Gegenwart zusammen. Der einzigen großen weiblichen Hauptfigur Charlie schreibt sie Gefühle in „Zone Acht“ wieder ab: Charlie war ein sehr krankes Kind und die Behandlungen hatten Folgen. Mit dem Großvater tritt in „Zone Acht“ wieder eine höchst ambivalente Wissenschaftler-Figur auf.

Während viele Vertreter des deutschsprachigen Feuilletons vor der Veröffentlichung damit beschäftigt waren, „Zum Paradies“ zu vernichten, werden jene, die Hanya Yanagihara zu schätzen wissen, in ihrem dritten Roman, der drei in einem ist, viele Aspekte entdecken, die sie länger beschäftigen könnten (Etwa all die kleinen Bemerkungen, wie die indigene Bevölkerung Jahrhunderte hindurch unterdrückt wurde und wird). Und wieder einen Wälzer zu haben, in den man versinkt, ist ein besonderes, selten gewordenes Vergnügen.

„Das Konzept des Paradieses ist eine Antwort. Das Paradies ist ein Ort, an dem man sich sofort zugehörig fühlt. Das ist eine universelle Sehnsucht, die so verführerisch ist“, sagt Hanya Yanagihara gestern Abend in Washington, DC. „Es ist so schwer für uns, diese Vorstellung aufzugeben, dass es irgendwo etwas Besseres gibt - einen Ort, einen Menschen, ein anderes Ich -, und wenn wir nur das Richtige tun, hart genug arbeiten, könnten wir es finden.“

mehr Buch:

Aktuell: